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Sein oder nicht sein – Das Dilemma der Entscheidung

 

Making of STELLARIS 104 – Parabelflug

 

Ein ganz normaler Tag in Terrania: Eine Handvoll Raumschiffe befinden sich im Anflug auf den größten Raumhafen der Stadt. Gleiter schweben zwischen den Wolkenkratzern der Multimillionenmetropole. Menschen und Außerirdische bewegen sich auf den Straßen und gehen ihren Beschäftigungen nach.

Ein Epsaler im Ruhestand lässt sich von einem Transportband zu seinem Lieblingsrestaurant transportieren, in dem er mit ein paar ehemaligen Kollegen frühstücken möchte. Über das entgegenkommende Band hüpft aufgeregt ein kleiner Junge; er hat gerade sein Taschengeld auf seinen Kreditchip überwiesen bekommen und möchte sich damit auf dem Markt seinen heißgeliebten weganischen Milchshake gönnen.

Keiner der beiden ahnt etwas von der Katastrophe, die über sie hineinbricht …

Schlagartig versagt der Antigrav eines altersschwachen Lastengleiters, der just in diesem Moment über den beiden schwebt. Das tonnenschwere Gefährt sackt ab. Die Verkehrsleitpositronik erkennt die Gefahr und aktiviert den nächstliegenden Traktorstrahlprojektor, der zum stadtumspannenden Notsystem gehört und speziell für solche Situationen geschaffen wurde.

Doch ausgerechnet dieses Aggregat ist defekt! Der Traktorstrahl erreicht nicht einmal ein Zehntel seiner Nominalleistung. Ein Absturz des Gleiters lässt sich nicht verhindern. Wie ein Stein fällt er in die Tiefe, dorthin, wo zwei ahnungslose Bürger Terranias sich auf ihren Laufbändern ihren Zielen entgegentragen lassen.

Die Programmierung der Leitpositronik ist darauf ausgerichtet, Leben zu retten und Schäden zu minimieren. Die Restleistung des von ihr angesteuerten Projektors kann dem abschmierenden Lastengefährt einen letzten kinetischen Impuls verpassen, der ihn geringfügig aus seiner Sturzbahn werfen wird.

Doch leider nicht genug, um beide Lebewesen unter dem Fluggerät zu verfehlen. Ein winziges Stückchen nach links würde den Epsaler verschonen. Ein Hauch nach rechts rettet den Jungen. Die Positronik muss eine Entscheidung fällen: Wer darf leben, wer muss sterben?

Diese Frage war eine der Inspirationen für meine neueste STELLARIS-Story „Parabelflug“, in der die KI (Künstliche Intelligenz) eine tragende Rolle spielt.

Spinnen wir die Problemstellung etwas weiter und übertragen sie auf unsere reale Welt – also das genaue Gegenteil dessen, was ich bei meinen Geschichten gerne mache.

Das von mir genannte Szenario wurde inspiriert von einem kontroversen Thema, das seit Jahren heiß diskutiert wird: das autonome Fahren. Die Entwicklung zukünftiger Verkehrsmittel schreitet zügig voran und kommt teilweise sogar bereits zum Einsatz. Ingenieure werden hierbei von der Frage getrieben, was bei einer unvermeidlichen Unfallsituation, bei der körperliches Leid nicht zu verhindern ist, zu geschehen hat.

Die Programmierung des Bordcomputers stünde hierbei vor einer heiklen Entscheidung: Wer soll verschont werden und wer nicht? Und würde vermutlich auch einen hochentwickelten Rechner in ferner Zukunft vor Probleme stellen.

Wie würde wohl ein Mensch in dieser Lage entscheiden?

»Ha, die Antwort ist leicht«, wäre vermutlich der erste Impuls; der alte Epsaler hat sein Leben bereits gelebt und vielleicht nur noch wenige Jahre vor sich. Stürbe er, wäre das gar nicht so tragisch.

Der Junge hingegen hat noch viel zu erleben: Erwachsen werden, eine Familie gründen, etliche Jahre an Lebenszeit.

Doch Vorsicht! Diese Sichtweise könnte zu kurz gegriffen sein.

Was, wenn der Epsaler sich rührend um sein Enkelkind kümmert und ihn mit seinen Anekdoten über sein einstiges Berufsleben dazu inspiriert, später einmal eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen und eine Erfindung zu machen, die die Heilung von Krankheiten ermöglicht, für die es bislang keine Behandlungsmöglichkeiten gibt? Würde der alte Mann sterben, könnte das den Enkel traumatisieren und damit zukünftige Berufsambitionen zunichtemachen. Keine gute Entscheidung also, den verrenteten Epsaler sterben zu lassen.

Und der Junge? Was, wenn er im Erwachsenenalter auf die schiefe Bahn gerät und zu einem einflussreichen Verbrecherboss eines Syndikats auf Lepso aufsteigt? Zu jemanden wird, der Morde in Auftrag gibt und die Milchstraße mit neuartigen Drogen überschwemmt, wie sie die Liga Freier Galaktiker noch nicht erlebt hat? In diesem Fall wäre seine Rettung eine sehr schlechte Entscheidung.

Die Frage, wer auf der Strecke bleiben muss und wer nicht, egal, ob durch passives oder aktives Handeln, ist ein Dilemma, das schon seit Menschengedenken Philosophen umtreibt. Kann man ein Leben gegen ein anderes abwägen? Darf man das überhaupt?

Schlussendlich lassen all diese Überlegungen nur ein Fazit zu: Es gibt keine richtige oder falsche Entscheidung. Es gibt keine Lösung, aber eine muss dennoch gefunden werden. Egal wie die Konsequenzen ausfallen.

Meine Hauptprotagonistin, die Stellvertretende Kapitänin der STELLARIS, Nyra Zendervrelch, steht vor diesem Dilemma. Ihr bleibt keine Zeit, eine Entscheidung auf rationaler Basis zu treffen. Sie handelt nach Gefühl. Eine Herzensentscheidung, die sich als fatal herausstellt.

Dies führt mich zur zweiten Inspiration für meine Geschichte. Der Frage: Was ist echt und was Fälschung?

KI erlangt zunehmend Bedeutung in unserem täglichen Leben. Was vor einigen Jahren noch wie Science Fiction anmutete, zeigt längst höchst reale und teils unangenehme Begleiterscheinungen.

KI kann eine faszinierende Sache sein. Ich nutze sie beispielsweise in Form von Bildgeneratoren, um Figuren zu verbildlichen, die ich mir für mein Herzensprojekt, einer großen Fantasysaga, einfallen lasse. Mich begeistert es, wenn die KI einen Vorschlag präsentiert, der dem Aussehen einer von mir erdachten Person entspricht oder sie mir eine tolle Wiedergabe eines Szenerios erstellt. KI bringt mich manchmal sogar auf neue Ideen, wenn sie zum Beispiel einem Krieger ein Kleidungsstück auf den Leib rechnet, das mir gefällt oder mir eine Handlungskulisse kreiert, die ich gar nicht auf dem Schirm hatte.

Bei „Parabelflug“ kamen hingegen die dunklen Aspekte dieser Technologie zum Tragen.

Vergangenes Jahr schockierte mich eine Meldung aus den USA. Dort geschah es, dass eine Mutter von ihrer Tochter angerufen wurde. Mit gehetzter Stimme und unter Tränen verkündete das Mädchen, dass es entführt worden sei und seine Kidnapper eine Millionen Dollar Lösegeld für ihre Freilassung verlangten.

Glücklicherweise klärte sich dieser Irrtum innerhalb weniger Minuten: Der Anruf kam von einer unbekannten Nummer. Die echte Tochter befand sich auf einem Skiausflug. Deren Unversehrtheit bestätigte sich glücklicherweise rasch.

Ich fand es erschreckend, dass die Mutter völlig davon überzeugt war, ihre eigene Tochter am Telefon zu haben. Das war möglich, da deren Stimme geklont worden war. Wenige Sekunden Audiomaterial genügten der KI, um eine perfekte Imitation zu erschaffen, inklusive emotionaler Regungen.

Inzwischen sind solche perfide Maschen raffinierter Betrüger auch hierzulande keine Seltenheit mehr und werden uns auch in Zukunft in Atem halten, davon bin ich überzeugt. Somit stellen sich gewichtige Fragen von hoher Aktualität, die ich in meine Story einbaute: Was ist real und was nicht? Wer ist am anderen Ende der Leitung? Das eigene Kind, das um Geld bettelt oder ein Bot, der nur so tut als sei er ein Mensch?

"Parabelflug" war ein Spontaneinfall, der mir abends vor dem Einschlafen kam. Ich überlegte, wie meine nächste STELLARIS wohl aussehen könnte. Eine Rettungsmission kam mir in den Sinn. Vielleicht eine planetare Katastrophe, zu der unser liebster Fracht- und Passagierraumer zu Hilfe eilt, und in dessen Zuge es zu einer Katastrophe innerhalb der Katastrophe kommt.

Der Rest fügte sich innerhalb von Minuten. Mit der Bettruhe war es allerdings erst einmal Essig. Zunächst mussten Notizen gemacht und die Euphorie des Heureka-Moments gedämpft werden.

In Zuge meiner Vorbereitungen kam dann die Überlegung, welchen Stil ich beim Schreiben anwenden wollte. Wobei diese Frage leicht zu beantworten ist: Wer meine Vorgängergeschichten gelesen hat, weiß, wohin die Reise geht. Ich liebe dramatische Geschichten und mag Action. Etwas Tiefgang sollte aber auch hinein. Philosophische Fragen und dergleichen bringe ich daher auf meine Weise ins Spiel; nicht mit Gemütlichkeit, sondern über Tempo.

Ich folge den Fußstapfen der Spannungsliteratur, einen Genre das nach meinem Gefühl hierzulande leider viel zu kurz kommt. Aber es gibt Ausnahmen. Prominentester Vertreter hierfür ist  im deutschsprachigen Raum vermutlich Sebastian Fitzek, in dem ich eines meiner literarischen Vorbilder sehe.

Sicherlich polarisiert er mit seinen Werken. Man mag ihn oder man mag ihn nicht. Ich oute mich als Fan seiner Bücher – und noch mehr seines Stils. Wie kaum einem anderen, gelingt es ihm, Spannungslinien hochzuhalten und auf die Spitze zu treiben. Gerne versieht er in seinen Büchern Abschnitts- und Kapitelenden mit fiesen Cliffhangern, die es dem Leser schwermachen, mit dem Lesen aufzuhören. So etwas mag ich – und schreibe liebend gerne in ähnlichem Stil, wenn es mir die Storyline ermöglicht.

So gesehen kann man meine neueste STELLARIS auch als eine Verbeugung vor dem Genre der Spannungsliteratur sehen. Mein Wunsch bei „Parabelflug“ war es, eine Geschichte zu verfassen, die den Leser von Anfang an packt und bis zum Schluss nicht mehr loslässt. Der Titel der Geschichte steht sowohl für die Sturzbahn der Trümmerstücke, als auch symbolisch für die Gefühlskurve meiner Hauptfigur Nyra Zendervrelch, die ich eine Lage brachte, die ihr keine Zeit zum Durchatmen lässt. Sie muss rasch entscheiden und handeln, denn die Zeit rennt ihr und den Schiffbrüchigen davon, denen sie verzweifelt zu helfen versucht.

Leider fällt sie auf einen falschen Arved Randil herein. Sie rettet den Kopf eines synthetischen Wesens, den Nachhall eines Jungen, der viel zu früh starb und einen Vater in tiefer Trauer zurückließ. Die Technologie der Zukunft ermöglichte es ihm, das geliebte Kind wiedererstehen zu lassen, als Androiden, der gemäß seiner Programmierung der Außenwelt vorgab, ein echter Mensch zu sein. Der sich seiner maschinellen Existenz nicht bewusst war und dadurch erst jene tragische Fehlentscheidung ermöglichte, die zum Tod eines Epsalers führte.

Ein tragischer Ausgang, den ich unbedingt in der Geschichte haben wollte, andernfalls hätte sie nicht funktioniert.

Oft frage ich mich: Was wird die Zukunft bringen? Eine Möglichkeit habe ich ja bereits angedeutet, als ich von dem Vorkommnis in den USA erzählte.

Eines nicht mehr fernen Tages könnte es bereits so weit sein: Stimme, Aussehen, ja sogar Verhaltensweisen könnten sich exakt nachahmen lassen. Ein geliebter Mensch entsteht, virtuell repliziert auf einem Flatscreen oder einer VR-Brille. Von dort ist es wohl nicht mehr weit zur physischen Erweiterung. Kunstkörper, die zunehmend perfektioniert werden.

Szenarien, wie man sie bereits von diversen Science-Fiction-Filmen, angefangen von Blade Runner, über A.I., bis hin zu Ex Machina, könnten Wirklichkeit werden. Ob uns das zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen wird, ist unklar.

Einerseits stelle ich es mir faszinierend vor, beispielsweise mit den Eltern zu interagieren, obwohl sie längst verstorben sind. Es könnte einen wichtigen Beitrag zur Trauerbewältigung leisten. Oder man denke nur an die Unterstützung, die KI-Roboter bei der Pflege von Angehörigen leisten könnten.

Auf der andere Seite ließe sich diese Technologie für ein Füllhorn an Boshaftigkeiten nutzen. Leider steht auch das zu erwarten.

Wie es sich in der indes Zukunft ausnehmen wird, liegt bei uns. Der Mensch bestimmt durch seine Intelligenz, wie eine künstliche Intelligenz aussehen soll, was sie leisten darf und wie überlegen sie uns sein soll.

Das Thema bleibt spannend …

Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen meiner vierten STELLARIS. Sie zu schreiben hat mir wiederum viel Freude bereitet.

 

Ad Astra,

 

euer Thorsten

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